Ich war 11 Jahre als die Berliner Mauer fiel und im Sauerland rund 350 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt. Carl hingegen war Mitte 20 und mitten drin. Am 10. November ruft ihn ein Notfall-Telegramm seiner Eltern heim ins Thüringische Gera. So beginnt der Roman „Stern 111“, ausgezeichnet in diesem Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse.
Inge und Walter eröffnen ihrem Sohn Carl, dass sie „rüber“ in den Westen wollen und setzen diese Ankündigung kurze Zeit später in die Tat um. Dass Westdeutschland allerdings nur als Durchgangsstation zu einem ganz anderen Land dienen soll, verraten sie ihrem Sohn nicht. Carl hingegen kommt in Ost-Berlin mit der Hausbesetzerszene in Kontakt, besetzt selbst eine Wohnung im Prenzlauer Berg und ist dabei, als seine neue Gang eine zunächst illegale Kellerkneipe in Berlin-Mitte eröffnet.

Lutz Seilers Roman begleitet alle drei, die teilweise getrennten Eltern und den Sohn. Er umspannt die Umbruchszeit von Ende 1989 bis Mitte 1991, als in Deutschland auf einmal alles möglich schien und vieles zumindest kurzzeitig möglich war. Sein dicht geschriebenes Buch über eine Familie, die sehr verschiedene Wege in die neue Zeit einschlägt zieht den Leser schnell in seinen Bann. Detailgetreu lässt es eine vergangene Zeit auferstehen, die im Corona-Frühjahr 2020 sehr, sehr weit weg erscheint. Schließlich ist „Stern 111“ ein wunderbarer Berlin-Roman, der die Geschichten der Straßen des Prenzlauer Bergs erzählt, in denen ich heute wohne.
Ist all dies schon oder erst 30 Jahre her? Das habe ich mich beim Lesen immer wieder gefragt. So viel ist seither passiert, so anders ist Berlin heute. Unserer digitalisierten und polarisierten Gegenwart täte eine Portion der damaligen Lust an der Utopie, der Offenheit für Neues und von dem Mut, das eigene Leben noch einmal neu zu beginnen, vermutlich ganz gut.